Laviziano's Lieblingsthemen

Unterstützte 
Entscheidungsfindung

„Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.“ So steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, Artikel 6). Sie wurde 1948 von den Vereinten Nationen verkündet, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der rassistischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten.

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen - kurz: die UN-Behindertenrechts-konvention (UN-BRK) - definiert die „Gleiche Anerkennung vor dem Recht“ in Artikel 12. Alle Staaten, die das Übereinkommen unterzeichnet haben, verpflichten sich „geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit ggf. benötigen“ (Art. 12 Abs. 3). Deutschland hat die UN-BRK 2009 ratifiziert.

Das Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt) und diese Rechte auch ausüben zu können, ist unantastbar. Keine gesundheitliche Situation rechtfertigt die Beschneidung der rechtlichen Handlungsfähigkeit. Mentale Fähigkeiten können verloren gehen, z.B. durch eine demenzielle Erkrankung, aber nicht die Rechts- und Handlungsfähigkeit.

Wenn eine Person, zum Beispiel in Folge einer Kopfverletzung oder einer neurologischen Erkrankung, ihre Wünsche nicht äußern kann; wenn sie in einer gesundheitlichen Situation Probleme hat, ihre Interessen durchzusetzen und ihre Rechte geltend zu machen, dann muss die staatliche Gemeinschaft dafür sorgen, dass ihre individuellen Werte und Bedürfnisse, z.B. als Kundin eines Pflegedienstes, als Patientin im Krankenhaus oder als Mieterin einer Wohnung geachtet werden. Die Person hat Anspruch auf eine aktive und wirksame Unterstützung bei der Ausübung ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit.

Tatsächlich werden in Deutschland viele Menschen mit mentalen Beeinträchtigung als „unfähig“ wahrgenommen: Wie soll eine Person, die ihren eigenen Namen vergisst, ein selbstbestimmtes Leben führen? Der Verlust der Autonomie erscheint unausweichlich.

Die „Unfähigen“ werden entsprechend behandelt: Andere entscheiden über die Abläufe und die Inhalte ihres Lebens - „wer sie pflegt, was es zu essen gib und wann die Person was macht“ (Anne Gersdorff, Karina Sturm 2024: 116).

Ich selbst habe den unbedingten Wunsch, dass mein soziales Umfeld meine Würde und meine Individualität anerkennt, auch wenn ich durch Krankheit oder Verletzung meine mentalen Fähigkeiten verlieren sollte - und ich gehe davon aus, dass viele Menschen den gleichen Wunsch in sich tragen: Sie wollen, dass ihre Identität und ihre Werte bis zum letzten Tag ihres Lebens respektiert werden.

Alle Menschen sind rechts- und handlungsfähig. Einige brauchen Unterstützung bei der Ausübung ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit. Das ist die Kernaussage der UN-Behindertenrechtskonvention zur „Gleichen Anerkennung vor dem Recht“.

Der praktische Kern rechtlicher Handlungsfähigkeit ist die freie Entscheidung über das eigene Leben. Entsprechend gilt die „Unterstützte Entscheidungsfindung“ als geeignete Hilfe zur Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit.

Das Konzept der Unterstützten Entscheidungsfindung - supported decision making - wurde um 1990 in Kanada entwickelt. 1992 schrieb eine Arbeitsgruppe der Canadian Association for Community Living (CACL), heute Inclusion Canada, in ihrem Bericht über Alternativen zur Erwachsenenvormundschaft [hier in eigener Übersetzung]:

Ein befähigendes Modell wird vorgeschlagen, das unterstützte Entscheidungsfindung genannt wird. Dieses Modell basiert auf Werten und Prinzipien, die anerkennen, das individuelle Autonomie auch in wechselseitiger Abhängigkeit zum Ausdruck gebracht werden kann; jede Person hat einen Willen und ist fähig, Entscheidungen zu treffen ...

Drei Grundgedanken waren entscheidend für das Konzept:

  1. Jede Person hat einen Willen und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.
  2. Das Angewiesensein auf Andere stellt die Autonomie einer Person nicht in Frage. Es ist normal, dass Menschen andere Menschen brauchen. Selbstbestimmung und Abhängigkeit schließen sich nicht aus.
  3. Menschen - mit und ohne Behinderung - nutzen vielfältige Unterstützungen, um Entscheidungen zu treffen.

Der deutsche Gesetzgeber hat versucht, das Betreuungsrecht im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention zu verändern. Die Unterstützung der rechtlichen Selbstsorge wurde mit der Reform 2023 als zentrale Betreueraufgabe definiert. Hierbei sei „eine Methode der unterstützten Entscheidungsfindung anzuwenden“ schreibt die Bundesregierung in ihrer Begründung zum neuen § 1821 BGB (Drucksache 19/24445, Seite 251). Der § 1821 BGB definiert die handlungsleitenden Prinzipien des deutschen Betreuungsrechts.

Es wäre allerdings grundfalsch, anzunehmen, dass die rechtliche Betreuung allein oder vorrangig für die Unterstützung der rechtlichen Handlungsfähigkeit verantwortlich ist. Systeme der Unterstützten Entscheidungsfindung verbinden eine Vielfalt möglicher Hilfen; der Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen nennt u.a. Peer-Support, Unterstützung bei der Selbstvertretung oder auch Kommunikationsassistenz als mögliche Formen der Unterstützten Entscheidungsfindung (CRPD/C/GC/1, Abschnitt Nr. 17).

In meinen Seminaren möchte ich Haltung vermitteln und die Art des Denkens über Freiheit, Autonomie und Behinderung herausarbeiten, die mit der Unterstützten Entscheidungsfindung verbunden ist. Ich informiere über die Geschichte des Konzepts und versuche, wichtige Bezüge zu erläutern:

Im zweiten Schritt biete ich eine theoretische Vertiefung an - mit Konzepten und Erkenntnissen aus der Entscheidungspsychologie und der internationalen Fachliteratur zur Unterstützten Entscheidungsfindung. Gern berichte ich über die Arbeiten von Karrie A. Shogren, Michael Wehmeyer oder auch Peter Blanck und Jonathan Martinis, die in den USA an der Schnittstelle von Pädagogik, Psychologie und Rechtswissenschaften über den Zusammenhang von Selbstbestimmung und Lebensqualität forschen und die Wirkung verschiedener Programme der Unterstützten Entscheidungsfindung ausgewertet haben. Ein wichtige Quelle ihrer theoretischen Überlegungen ist die positive Psychologie, die zu erklären versucht, welche Lebensbedingungen dazu beitragen, dass Menschen Glück und Zufriedenheit erleben. Selbstbestimmt und wirksam das eigene Leben zu gestalten gilt in der positiven Psychologie neben sozialen Beziehungen als wichtigste Voraussetzung für Wohlbefinden, Motivation und persönliches Wachstum.

Im dritten Schritt fokussiere ich wichtige Handlungselemente einer Unterstützten Entscheidungsfindung:

  1. die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse
  2. der Blick in die Zukunft: Wie will ich leben? Was soll bleiben? Was soll sich verändern?
  3. die Vorbereitung einer Entscheidung: Was kann ich tun? Welche Konsequenzen sind denkbar? Welche Barrieren muss ich überwinden? Welche Hilfen und Ressourcen kann ich dabei nutzen?
  4. die zielgerichtete Umsetzung einer getroffenen Entscheidung
  5. und schließlich auch die Auswertung von Erfahrungen und das Nachdenken über das, was tatsächlich passiert ist

Unterstützte Entscheidungsfindung ist ein Werkzeug, das Menschen nutzen können, um ihre Handlungsfähigkeit zu stärken. Unterstützte Entscheidungsfindung ist gleichzeitig ein politisches Konzept, dass strukturelle Veränderungen herausfordert.

In der „Schonraumfalle“ (Raul Krauthausen) einer „beschützen Einrichtung“ ist eine Ermächtung behinderter Menschen kaum möglich, es sei denn, der Auszug aus der Einrichtung und ein selbstbestimmtes Wohnen mit persönlicher Assistenz ist eine reale Möglichkeit.

Eindrücklich beschreibt der Berliner Inklusionsaktivist und Medienmacher Raul Krauthausen die Freiheitsverluste, die viele Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag erdulden müssen. In seinem aktuellen Buch (2023) „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“ erzählt er über das Leben in einer Pflegeeinrichtung - er hatte sich 2016 im Rahmen einer politischen Kampagne zum Bundesteilhabegesetz mit geborgter Identität in das Behindertenheim eingeschleust.

Der Betreuungsschlüssel: drei Betreuer*innen auf acht Bewohner*innen - es fehlt schlicht die Kapazität, auf individuelle Wünsche einzugehen. Mir wurde beispielsweise empfohlen, zwischen 21 Uhr 30 und 22 Uhr schlafen zu gehen, weil anschließend Schichtwechsel anstünde und die nötige Assistenz dann schwierig durchzuführen sei. Auch bei meiner Unterstützung kam ich an meine Grenzen - zum Beispiel als ich nach mehrmaliger Bitte um Unterstützung beim Toilettengang auf später vertröstet wurde. Die Pfleger*innen waren grad noch mit einer anderen Aufgabe beschäftigt. Ich hatte außerdem das Gefühl, meine Privatsphäre zu verlieren, wenn ich nach langem Warten zur Toilette gebracht wurde, ließ der Pfleger die Tür offen stehen. Mir wurde schnell klar, wie abhängig ich in dieser Pflegeeinrichtung war - wenn ich einen Joghurt essen wollte, musste ich einen Pfleger darum bitten, mir den abgeschlossenen Kühlschrank zu öffnen. Selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen war oft schlichtweg nicht möglich (Seite 114-115).

Warum ist es normal, dass viele Menschen mit Behinderungen in besonderen Einrichtungen oder Wohnformen leben, die ihre individuelle Freiheit einschränken? 

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz.

Unterstützte Entscheidungsfindung ist eine transformative Praxis mit einer individuellen und einer strukturellen Ausrichtung: Unterstützte Entscheidungsfindung stärkt die Person als selbstbestimmte Akteurin ihres eigenen Lebens und fördert den Abbau gesellschaftlicher Barrieren, die ihre Freiheitsrechte einschränken.

Damit ist die Unterstützte Entscheidungsfindung unweigerlich eine politische Herausforderung für alle Personen, die als Mitarbeitende von Einrichtungen und Diensten im Rahmen der Eingliederungshilfe verpflichtet sind, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Sie müssen bereit sein, mutig und selbstkritisch ihr eigenes Angebot in Frage zu stellen und Mechanismen struktureller Gewalt gemeinsam mit ihren Klient*innen anzufechten.

Fachkräfte können Verbündete sein: Ausgrenzung entgegentreten, über die eigene Sprache nachdenken, zuhören, wenn Menschen mit Behinderungen sprechen und vor allem behinderte Menschen als gleichwertig anerkennen und deshalb auch niemals akzeptieren, dass die Freiheit einer Klientin in einer Weise eingeschränkt wird, die für eine (noch) nicht behinderte Person unvorstellbar wäre.

© Alexander Laviziano, Juli 2024

 

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