Laviziano's Lieblingsthemen

Rechtliche Betreuung

Angelegenheiten rechtlich besorgen, so definiert das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) den Gegenstand rechtlicher Betreuung: „Der Betreuer nimmt alle Tätigkeiten vor, die erforderlich sind, um die Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen. Er unterstützt den Betreuten dabei, seine Angelegenheiten rechtlich selbst zu besorgen …“ (§ 1821 Abs. 1 BGB).

Rechtliche Betreuer*innen unterstützen Menschen mit Behinderungen, die rechtlichen Anforderungen ihres alltäglichen Lebens zu bewältigen.

Unsere Gesellschaft ist auf eine lückenlose Verwaltung ausgerichtet und erwachsene Menschen müssen tagtäglich „rechtliche Angelegenheiten besorgen“: zum Beispiel Kaufverträge abschließen, Konten eröffnen, in medizinische Behandlungen einwilligen, soziale Leistungen beantragen oder auch Schulden regulieren und Steuererklärungen abgeben.

Der Fokus meiner Seminare zur rechtlichen Betreuung sind die systemrelevanten Grundmuster, also die wichtigsten Regeln, Ideen, Prinzipien, Abläufe und Bedingungen, die das System beeinflussen und prägen. Ich denke da zum Beispiel an die folgenden Punkte:

  • Die Selbstbestimmung der betreuten Person ist der Maßstab einer guten Betreuungsarbeit.
  • Die Betreuerin bietet keine Vertretung an, wenn die betreute Person mit Unterstützung selbst handeln kann.
  • Die Betreuerin achtet die „Würde des Risikos“ und das Recht der betreuten Person, Entscheidungen zu treffen, die ihre eigene Lebenssituation verschlechtern.
  • Betreuung bietet Schutz, wenn Menschen im Zustand einer gesundheitlichen Krise die Kontrolle über ihr eigenes Leben verlieren und von Ausgrenzung bedroht werden.
  • Leistungen der sozialen Teilhabe haben Vorrang vor dem Leistungsangebot der rechtlichen Betreuung; das gilt auch für die Befähigung zur rechtlichen Selbstsorge.
  • Die Betreuerin ist keine Helferin, sie organisiert Hilfen beziehungsweise unterstützt die Organisation von Hilfen.
  • Das Betreuungsrecht kombiniert zwei widerstrebende Leitideen. Leitidee I: „Die Betreuerin befähigt Menschen mit Behinderungen, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen“. Leitidee II: „Die Betreuerin vertritt behinderte Menschen, die nicht fähig sind, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen“.
  • Die Praxis der Betreuung ist widersprüchlich: Sie ist einerseits auf Selbstbestimmung und Ermächtigung ausgerichtet, andererseits durch eine Geschichte des Paternalismus („ich weiß, was gut für Dich ist“) und eine materielle Ausstattung vorbelastet, die stellvertretendes Handeln und nicht die Unterstützung selbstbestimmter Entscheidungen fördert.

Ich versuche die Grundmuster der rechtlichen Betreuung herauszuarbeiten, indem ich interdisziplinär - offen für juristische, ethische, sozialarbeiterische, historische und kulturwissenschaftliche Sichtweisen - bestimmte Zusammenhänge betrachte und ausleuchte:

  • Die Geschichte der rechtlichen Betreuung - von der Erwachsenenvormundschaft zur Unterstützten Entscheidungsfindung: Wie hat sich die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen in den letzten Jahrzehnten verändert? Welche grundlegenden Werte - also zum Beispiel Fürsorge, Selbstbestimmung, Schutz und Freiheit - wurden und werden in der Betreuung verhandelt?
  • Die UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere Artikel 12 „Gleiche Anerkennung vor dem Recht“ (hierzu mehr in meinem Text zur Unterstützten Entscheidungsfindung).
  • Die Leitideen und Handlungsprinzipien des Betreuungsrechts, die im § 1821 des Bürgerlichen Gesetzbuchs juristisch definiert sind.
  • Die fachlichen Grundlagen einer guten Betreuungsarbeit: *Unterstützte Entscheidungsfindung* - die Förderung der rechtlichen Selbstsorge im Rahmen einer selbstbestimmten Lebensgestaltung ; *Fallsteuerung* - die Unterstützung bei der Planung und Koordination individueller Hilfen; *Anwendung der Vertretungsmacht* - die rechtsverbindliche Durchsetzung individueller Entscheidungen im Auftrag der betreuten Person, sofern sie diese Form der Unterstützung benötigt.
  • Die besondere Risiken, die mit einer rechtlichen Betreuung verbunden sein können: missbräuchliche Einflussnahme, wenn die Betreuerin - möglicherweise unbewusst, vielleicht auch wohlwollend - ihre eigenen Wertvorstellungen ins Spiel bringt; Verlust der Freiheitsrechte, wenn die Betreuerin - möglicherweise wohlwollend, manchmal auch aus Angst vor der eigenen Haftung - Wünsche missachtet, die mit finanziellen oder gesundheitlichen Gefahren für die betreute Person verbunden sind; Einwilligung in betreuungsrechtliche Zwangsmaßnahmen, die mit einer bedarfsgerechten psychosozialen Versorgung vermeidbar wären.

Eine ergänzende Anmerkung zum Thema „Zwang in der rechtlichen Betreuung“:

Bei diesem Thema geraten rechtliche Betreuer*innen nahezu unvermeidbar in ein moralisches Dilemma. Sie haben die Pflicht, ihre Klient*innen davor zu bewahren im Zustand einer schweren psychischen Krise das eigene Leben zu gefährden und müssen gegebenenfalls als letztes Mittel über eine Unterbringung, Fixierung oder Zwangsmedikation entscheiden. Das Problem: Der Grundsatz des letzten Mittels (Ultima Ratio) wird durch ein unzureichendes Versorgungsangebot für Menschen in psychischen Krisen ausgehebelt und Betreuer*innen müssen das akute Risiko der Selbstschädigung mit dem akuten Risiko abwägen, dass die betreute Person in der Psychiatrie „fürsorgliche Gewalt“ oder besser gesagt „Gewalt statt Fürsorge“ erlebt.

Die Stellungnahme „Hilfe durch Zwang?“, die der Deutsche Ethikrat auf der Grundlage einer öffentlichen Befragung 2019 herausgegeben hat, bestätigt den Missbrauch freiheitsentziehender Maßnahmen:

Ein großer Teil der Befragungsteilnehmer sieht die schlechte Personalsituation in allen drei Praxisfeldern [Psychiatrie, Pflege, Behindertenhilfe] als zentrale Ursache für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen […] Dabei wird sowohl auf den grundsätzlichen Personalmangel als auch auf den Fachkräftemängel und die unzureichende Aus‑, Weiter- bzw. Fortbildungssituation verwiesen. Viele Befragungsteilnehmer sind überzeugt, dass durch Personal- und Zeitverknappung ungerechtfertigte Zwangsmaßnahmen zunehmen würden (Seite 8).

In einem der reichsten Länder der Welt werden behinderte Menschen misshandelt, weil die Personalausstattung in der Psychiatrie, der Behindertenhilfe und der Altenpflege unzureichend ist? Kaum zu glauben. Für eine rechtebasierte Betreuung ist das eine schwierige Ausgangslage. 

Rechtliche Betreuer*innen unterstützten behinderte Menschen, die von Ausgrenzung bedroht sind. Sie tragen eine besondere Verantwortung, weil sie nach § 1823 BGB vertretungsbefugt sind. Die Vertretungsmacht ist ein scharfes Schwert. Damit können Betreuer*innen die Wünsche und die Rechte einer betreuten Person gegenüber Dritten, z.B. einer behandelnden Ärztin oder einer Behörde, wirksam durchsetzen. Sie können verhindern, dass Menschen in einer Situation der Verletzlichkeit ihre Rechte verlieren und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Und umgekehrt: Wenn Betreuer*innen bewusst oder unbewusst die Fähigkeit einer Klientin, Entscheidungen zu treffen, in Abrede stellen, dann wird die Betreuung selbst zu einem Risiko für die betreute Person.

Rechtliche Betreuung ist ein sehr kompliziertes Handlungsfeld. Ich versuche die wichtigsten Zusammenhänge herauszuarbeiten. Die systemrelevanten Grundmuster bilden den Schwerpunkt meiner Seminare - Informationen, die in verschiedenen Situationen Orientierung vermitteln. Ich nenne das “generatives Wissen“. Generatives Wissen ist der Rohstoff für gute Entscheidungen in komplexen nicht planbaren Situationen.

Fallbesprechungen sind eine gute Möglichkeit, die systemrelevanten Grundmuster der rechtlichen Betreuung zu veranschaulichen.

Die Anwendung von Wissen auf konkrete Fallerfahrungen ist eine Brücke zwischen Theorie und Praxis. Ich arbeite mit einer Methode der kollegialen Fallberatung nach Balint und einer kritischen Fallbetrachtung nach Flanagan - kombiniert mit einer kulturwissenschaftlichen Analyse alltäglicher Gedanken, Abläufe und Handlungen, die so selbstverständlich sind, dass die Beteiligten sie nicht mehr wahrnehmen. Menschen sind unbewusst mit ihrer Praxis verwoben, die sie verstehen und verändern wollen und müssen aus dem Spiel heraustreten, um seine prägenden Muster erkennen zu können. Pierre Bourdieu nannte das „teilnehmende Objektivierung“. Die teilnehmende Objektivierung erfordert einen „Bruch mit den tiefsten und am wenigsten bewussten Einverständigkeiten und Überzeugungen“ (Bourdieu/Wacquant 1996, Reflexive Anthropologie, S. 287).

© Alexander Laviziano, Juli 2024

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