1. F e l d e r f a h r u n g e n
Als Student der Ethnologie wollte ich mein Fachwissen in die interkulturelle Pädagogik einbringen. Ich jobbte in Kindergärten, Ganztagsschulen und Einrichtungen der offenen Jugendhilfe, beobachtete die selektive Anwendung des Kulturkonzepts auf das Verhalten der Nutzer*innen (Kultur, so schien es, hatten immer nur die Anderen) und entwickelte ein interkulturelles Training mit reflexiver Ausrichtung, also mit einer Umkehr der Blickrichtung auf die eigene Kultur. Ich wollte pädagogische Fachkräfte ermutigen, über ihre eigenen mehr oder weniger bewussten Erwartungen oder auch Sichtweisen nachzudenken, die das berufliche Verhalten beeinflussen.
Mit den Wendungen meines beruflichen Werdegangs veränderten sich meine inhaltlichen Schwerpunkte.
Nach dem Studium unterstützte ich als Mitarbeiter im „Betreuten Wohnen“ Menschen mit Lernbeeinträchtigungen in ihrem Alltagsleben - damals war „Ambulantisierung“ das große Thema und mithin die Frage, unter welchen Voraussetzungen die betreuten Personen in der Lage sein würden, die Anforderungen ihres Alltag selbstbestimmt und in eigener Verantwortung zu bewältigen. Ich fand, dass die Unterstützung nicht besonders gut organisiert war, in unangemessener Weise in das Privatleben der Bewohner eingriff und deren Freiheit einschränkte. Ich las „Leben auf eigene Gefahr“ (Fib e.V. 1995) und andere kritische Texte über die Aussonderung behinderter Menschen. In meiner begleitenden Case Management Ausbildung kombinierte ich die Idee der Normalisierung - das Recht behinderter Menschen auf ein freies und selbstständiges Leben in der Gemeinde - mit dem Konzept einer planvollen Unterstützung, die verschiedene Angebote (Beratung, Therapie, Assistenz, Begleitung durch Familie und Freunde) zu einem individuellen und selbst gesteuerten Hilfesystem zusammenbindet.
Danach übernahm ich eine Referentenstelle in der rechtlichen Betreuung, ein wissenschaftlich eher von Jurist*innen beherrschtes Feld der sozialen Arbeit, das in den 2010er Jahren durch internationale Debatten im Einfluss der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) aufgemischt wurde - bis hin zur großen Reform 2023, die die rechtliche Betreuung erstmalig und ausdrücklich als Unterstützung definierte. „Unterstützte Entscheidungsfindung“, im englischen Original: supported decision making - das neue Leitmotiv rechtlicher Betreuung hat diese im Bürgerlichen Gesetz definierte Hilfe bei der Ausübung der rechtlichen Handlungsfähigkeit in das Fachgebiet der Sozialen Arbeit hinein verschoben. Es gilt nun, entsprechende Standards für eine gute Betreuungsarbeit zu entwickeln, die darauf ausgerichtet sind, Fähigkeiten wahrzunehmen, Potenziale zu fördern, Barrieren abzubauen und die Handlungsmacht der betreuten Personen zu erweitern.
Die dritte große Station meines beruflichen Werdegangs führte mich in die psychosoziale Beratung und Rehabilitation von Menschen mit Epilepsien und damit erneut in einen fachübergreifenden Arbeitsbereich. Ähnlich wie die rechtliche Betreuung ist der Diskursraum der Epilepsieversorgung von einem Ungleichgewicht der theoretischen Sichtweisen auf Kosten der Anerkennung sozialer Bezüge belastet; hier zugunsten einer Medizin, die Krankheitserfahrungen auf das Körperliche reduziert. Auf der Grundlage des Konzepts „Selbst-Handelns bei Epilepsie“ (Gerd Heinen: 2013) entwickelten wir eine berufliche Reha, die Menschen mit Epilepsien unterstützt, in beruflichen Zusammenhängen aktiv und selbstbestimmt mit ihrer Krankheit umzugehen. Die Arbeit im Epilepsiebereich führte mir die praktische Bedeutung des bio-psycho-sozialen Modells der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) vor Augen. Epileptische Anfälle entstehen in einer Wechselwirkung mit dem autonomen Nervensystem. Das autonome Nervensystem verschaltet psychische Erlebnisse und körperliche Prozesse. Persönliche Erfahrungen wie Arbeitsstress, die mit gesellschaftlichen Bedingungen verbunden sind, beeinflussen die biologischen Vorgänge im Gehirn und damit auch den Verlauf einer Epilepsie. Die Betroffenen selbst können den Verlauf ihrer Erkrankung beeinflussen, wenn sie erkennen, welche Situationen und Verhaltensweisen die Wahrscheinlichkeit erhöhen oder verringern, einen Anfall zu erleiden.
In allen Arbeitsbereichen, die ich mit gestalten durfte, war Fremdbestimmung ein zentrales Problem der hilfe- oder ratsuchenden Personen: Im Betreuten Wohnen mussten die Klient*innen ihre persönlichen Anliegen einer gruppenbezogenen Versorgungsstruktur unterordnen; die rechtliche Betreuung beruhte lange Zeit auf der Idee stellvertretender Entscheidungen für krankheitsbedingt unfähige Menschen und viele Epilepsiebetroffene erleben sich selbst in ihrer Patient*innen-Rolle als Objekte einer "sprachlosen" medizinischen Versorgung, die ihre individuellen Erfahrungen und Bedürfnisse vernachlässigt.
Nach meiner Erfahrung sind Maßnahmen der Bemächtigung (Empowerment), die eine Rückeroberung der Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Leben unterstützen, Dreh- und Angelpunkt einer guten Sozialarbeit.
2. E t h i k
Ich möchte dort, wo ich tätig sein darf, einen Beitrag für Freiheit, Inklusion und Solidarität leisten.
Inklusion und Solidarität sind die Gegenteile von Ausgrenzung und Spaltung: Menschen sind gleichwertig in ihrer Unterschiedlichkeit. Sie sind aufeinander angewiesen und tragen Verantwortung für ein gutes Zusammenleben, dass allen Menschen - solange sie nicht andere verletzten oder ausgrenzen - ein Leben in Würde und Freiheit ermöglicht.
Mit dieser Haltung gehe ich in die Praxis und versuche zu verstehen, wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit gelebt und gefördert werden können.
3. T h e o r i e
Die Machtfrage stellen
Macht verengt oder erweitert die Möglichkeiten einer Person. Macht bedeutet, ich werde gehört. Macht bedeutet, ich kann meine Interessen durchsetzen und meine Träume verwirklichen. Macht ist das zentrale Thema Sozialer Arbeit. Viele Nutzer*innen erleben Fremdbestimmung, Ausgrenzung und Armut und haben Probleme, ihre Interessen durchzusetzen und ihre Bedürfnisse zu realisieren. Gute Sozialarbeit stärkt die Handlungsmacht derjenigen, die von Benachteiligung betroffen oder bedroht sind. Das erfordert einen klaren Blick für die Kräfteverhältnisse und die Mechanismen der Macht in den Lebenswelten der unterstützten Personen. Ob Schule, Krankenhaus, Rechtspflege oder Arbeitswelt: immer geht es um die Frage, welche Kraftquellen oder Barrieren die Entfaltung eines selbstbestimmten Lebens in Freiheit und Würde ermöglichen oder behindern.
Kultur verstehen
Ich habe Ethnologie (Kulturwissenschaften) im Einfluss postkolonialer und postmoderner Debatten studiert - also mit Blick für das Zusammenwirken von Wissen, Sprache und Macht. Das prägt meine Arbeitsweise.
Ethnolog*innen analysieren das Vor-Ort-Geschehen im Zusammenhang mit der symbolischen Ordnung einer Gesellschaft. Bedeutungen, die den Dingen, Worten und Taten anhaften, formen die Wahrnehmung der Welt. Sie sind eingebunden in gesellschaftliche Erzählungen, z.B. über das Normale, über Abweichung, Krankheit, Heilung, Geschlecht, Familie und Natur. Sie prägen das Denken und die Sichtweisen der Menschen und sorgen dafür, dass eine gesellschaftliche Ordnung - mit all ihren Ungerechtigkeiten, absurden Traditionen und seltsamen Praktiken - selbstverständlich erscheint.
Ein Blick in die Geschichte offenbart die Macht der symbolischen Ordnung, Kräfteverhältnisse auf Kosten bestimmter Gruppen zu konservieren: In der westdeutschen Nachkriegszeit bezeichneten amtliche Quellen Menschen mit Behinderungen als „missgebildet“, „leistungsgestört“ und „lebensuntüchtig“ (Bösl 2010); in den damaligen Einrichtungen der Heilerziehungspflege waren Gewalt und Misshandlung normale professionelle Praxis, wie die Die Alsterdorfer Passion von Betram Rotermund und Rudolph Simon dokumentiert. Ein anderes Beispiel aus der westdeutschen Geschichte: Diskurse über die Ehe und die Rolle der Frau. 1966 urteilte der Bundesgerichtshof, es sei der Frau verboten - auch wenn sie den Sex nicht wollte - „im ehelichen Verkehr … Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen“ (BGH, 02.11.1966 - IV ZR 239/65). Passend zu dieser patriarchalen Kultur des Rechts war sexualisierte Gewalt eheliche Normalität. Erst 1997 wurde in Deutschland die Vergewaltigung in der Ehe als Straftat anerkannt. Als beeindruckendes Zeitdokument empfehle ich die von Helga Nowotny geleitete Talkshow zu diesem Thema, die 1987 im Österreichischen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
4. P r a x i s
Das Selbstverständliche in Frage stellen
„Narrative“ - gesellschaftliche Erzählungen - schaffen Wirklichkeit, weil sie das Denken und das Bewusstsein der Menschen prägen und Handlungsentscheidungen beeinflussen. Deshalb hat die Analyse der symbolischen Ordnung ein transformatives Potenzial. Wer anders denkt kann anders handeln.
Eine rechtliche Betreuerin, die ihre Arbeit als Unterstützung von Menschen mit Fähigkeiten und Potenzialen begreift, wird die Wirklichkeit einer betreuten Person mit anderen Augen wahrnehmen und andere fachliche Entscheidungen treffen, als eine Kollegin, die ihre Betreuungsarbeit als Ausgleich für die Unfähigkeit des behinderten Menschen konzipiert. Eine Neurologin, die epileptische Anfälle als isolierte hirnorganische Phänomene begreift, wird andere Schlussfolgerungen für die Behandlung ziehen, als eine Neurologin, die ein bio-psycho-soziales Denkmodell anwendet, um epileptische Anfälle zu verstehen.
Mit Widerstand rechnen
In der Bundesrepublik der 1970er Jahre war es normal, dass Pflegefachkräfte und Helfer*innen Menschen mit Behinderungen im Namen der Fürsorge misshandelten. Es war auch normal, dass Ehemänner ihre Frauen zum Zwecke der eigenen sexuellen Befriedigung missbrauchten. Einige Personen und Gruppen stellten diese Normalität in Frage; dagegen versuchten andere, den Status Quo zu erhalten. Als Petra Kelly am 5. Mai 1983 im Bundestag den FDP-Abgeordneten Detlef Kleinert fragte, ob er dafür sei, dass Vergewaltigung in der Ehe in das Strafgesetzbuch kommt, antwortete er mit einem deutlichen „Nein“, begann zu lachen und die Männer im Bundestag folgten ihm mit lautem Gelächter, Klopfen und Gejohle.
Veränderung trifft auf Widerstand. Das gilt für die große politische Bühne, das gilt auch für die konkreten Handlungsfelder vor Ort. Noch Ende der 1970er Jahre engagierten sich Entscheidungsträger karitativer Institutionen für den Erhalt geschlossener Einrichtungen als „Schutzräume“ für behinderte Menschen, obwohl hinlänglich bekannt war, welches Maß an Gewalt diese Einrichtungen hervorgebracht hatten (Engelbracht, Hauser 2013: 236).
Große Ziele, kleine Schritte
Nicht jede Person ist aufgeschlossen gegenüber Veränderungen, die erforderlich sind, um die Welt gerechter und inklusiver zu machen - einige fürchten den Verlust eigener Vorteile, andere sind gefühlsmäßig mit der alten Welt verbunden und haben Angst, Gewohnheiten aufzugeben.
Im Rahmen der Sozialen Arbeit kann ein Motiv der Veränderung aber auch Sinn stiften und der gemeinsamen Arbeit Kraft verleihen. Die Bereitschaft zur Veränderung steigt, wenn die Beteiligten Sichtbarkeit und Anerkennung erleben, ihr Wissen teilen, Ziele gemeinsam festlegen und erfahrungsorientiert entscheiden, was getan werden muss - und zwar Schritt für Schritt.
Soziale Arbeit wird von Menschen gemacht, die mit verschiedenen manchmal auch widersprüchlichen Motiven und Verhaltensweisen komplexe Aufgaben bewältigen. Als Ethnologe habe ich gelernt, soziale Systeme ausgehend von den konkreten Details des alltäglichen Lebens und seiner symbolischen Bezüge zu verstehen. Meine Seminare und Beratungen sind darauf ausgerichtet, in einem Austausch von Erfahrungen Praxis zu durchleuchten, um Veränderungsimpulse anbieten zu können. Ich unterstütze Mitarbeitende und Führungskräfte in der sozialen Arbeit, den Zweck ihrer Tätigkeit zu fokussieren und die konkreten Hindernisse und Chancen einer bestmöglichen Umsetzung zu ermitteln. Dafür biete ich Fachinformationen an, die Orientierung vermitteln. Außerdem unterstützte ich Fallberatungen mit Methoden und Begriffen der kulturwissenschaftliche Praxisanalyse, die es den Beteiligten erlaubt, unbewusste Probleme und Widersprüche aufzudecken und realistische Möglichkeiten der Veränderung zu benennen.
Quellen
Bösl, Elisabeth (2010): Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik aus Sicht der Disability History. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 23
Engelbracht, Gerda und Hauser, Andrea (2013): Mitten in Hamburg. Die Alsterdorfer Anstalten 1945 - 1979. Kohlhammer Verlag (Stuttgart)
Fib e.V. (1995): Leben auf eigene Gefahr. Geistig Behinderte auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben. AG SPAK
Heinen G (2013): Selbst-Handeln bei Epilepsie: Eine subjektwissenschaftliche Grundlegung einer psychosomatischen Epileptologie. Lengerich (Pabst)
© Alexander Laviziano, Juli 2024
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