Laviziano's Lieblingsthemen
Epilepsie: Kontext und Kultur
Epilepsie als individuelle Erfahrung und als Wissensgebiet der Medizin, der Psychologie und der Sozialen Arbeit ist eines meiner Beratungsthemen, Schwerpunkt: „Soziale Unterstützung von Menschen mit Epilepsien“.
Zwischen 2017 und 2023 entwickelte ich als Mitarbeiter der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (Hamburg) ein epilepsiebezogenes rehabilitatives Forschungsprojekt, Vorschläge für eine epilepsiebewusste Ausgestaltung der sozialen Assistenz nach § 78 SGB IX und eine berufliche Teilhabe-Maßnahme für Menschen mit Epilepsien, die trotz medikamentöser Behandlung weiterhin Anfälle haben. Etwa 35% der epilepsieerkrankten Personen gelten als „schwer behandelbar“. Epilepsie ist eine der häufigsten chronisch-neurologischen Erkrankungen; ungefähr eine von hundert Personen ist davon betroffen.
Hier nun eine kurze Darstellung meines epilepsiebezogenen Wissens. Im Fokus der Sichtweise, der ich als Ethnologe zugeneigt bin: die konkreten Erfahrungen der beteiligten Akteur*innen, die Ideen, die ihre Wahrnehmung formen und die Machtverhältnisse, die den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema prägen. Das Verständnis und die Behandlung von Krankheiten ist „Kultur“, also Ausdruck einer symbolischen Ordnung und einer dadurch geprägten selektiven Sichtweise auf menschliche Erfahrungen. Kultur verändert sich: Zukünftige Generationen werden Epilepsie anders wahrnehmen, anders definieren und auch anders damit umgehen.
Ich werde im weiteren Text „Epilepsie(n)“ in den Plural setzen, weil keine Epilepsie wie die andere ist. Manche sprechen von einer „Krankheit der vielen Gesichter“.
Epilepsien sind bio-psycho-sozial
Grundlegend für mein Verständnis der Epilepsien ist das „bio-psycho-soziale Denkmodell“ der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF). Das bio-psycho-soziale Modell definiert Krankheit bzw. Gesundheit als ein Wechselverhältnis von körperlichen Vorgängen, innerem Erleben und sozialen Bedingungen.
Die soziale Dimension der Epilepsien ist so naheliegend wie evident. Epilepsien sind Erkrankungen des Gehirns. Das Gehirn gehört zum menschlichen Nervensystem und ist eine Schaltstelle zwischen Erfahrungen, Empfindungen und Körperprozessen. Menschen mit Epilepsien berichten über verschiedene äußere und innere Bedingungen, die Anfälle auslösen können: Schlafmangel, unregelmäßige Tabletteneinnahme, Unterzuckerung, das Absinken des Progesteronspiegels in den Tagen vor der Menstruation, heftige Gemütsbewegungen, das Entspannungsloch nach einem stressigen Arbeitstag, Alkoholkonsum, monotone Tätigkeiten am PC oder auch Fieber und schwere Infekte. Psychischer Druck scheint inmitten dieser Vielfalt möglicher Anfallsauslöser eine besondere Wirkung zu entfalten, wie der Rehabilitationspsychologe Jürgen Bengel (Universität Freiburg) im Rahmen des Projekts „krankheitserfahrungen.de“ dokumentiert hat:
Am häufigsten nannten unsere Interviewpartner Stress als auslösenden Faktor. Viele berichteten von Anfallshäufungen in Zeiten, in denen sie psychische Belastungen hatten oder unter nervlichem oder physischem Druck standen. Dabei stellten allerdings viele unserer Erzähler fest, dass ihre Anfälle nicht während der eigentlichen Phase der Anspannung oder der Gemütsbewegung kamen, sondern Stunden oder Tage danach, wenn sie sich wieder entspannen konnten.
In Untersuchungen mit großen Patientengruppen wurden emotionaler Stress, Erschöpfung und Schlafentzug als die drei wichtigsten Auslöser epileptischer Anfälle identifiziert (Nagai 2018: 113).
Das bio-psycho-soziale Gesundheitsmodell - dass von Wechselbeziehungen zwischen sozialen Erfahrungen, Verhalten, Gefühlen und Körperprozessen ausgeht - ist k e i n e Grundlage der aktuell anerkannten und von Krankenkassen finanzierten Epilepsiebehandlung. Die offizielle medizinische Behandlungsleitlinie „Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter“ reduziert epileptische Anfälle auf die Idee eines krankes Gehirns mit erhöhter Anfallsneigung. Warum haben Menschen mit Epilepsien in bestimmten Situationen Anfälle - oder auch keine Anfälle? Die Leitlinie stellt diese Frage nicht. Der Mensch hat Anfälle, weil sein Gehirn krank ist. Die Autor*innen der Leitlinie vertreten die Auffassung, dass epileptische Ereignisse im Gehirn keine ursächlichen Verbindungen zu den Erfahrungen und Gefühlen der betroffenen Person aufweisen.
Körperzentriertes Epilepsie-Narrativ: „Das Gehirn ist krank.“
Die Definitionshoheit für die komplexe menschliche Erfahrung epileptischer Anfälle wurde dem medizinischen Fachgebiet der Neurologie zugeordnet. Die zuständige Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), definiert epileptische Anfälle in der oben zitierten Leitlinie (Seite 21) als das „vorübergehende Auftreten von objektiven und/oder subjektiven Zeichen … einer exzessiven oder synchronisierten neuronalen Hirnaktivität“. Entsprechend dieser neurobiologisch-symptomorientierten Definition epileptischer Anfälle fokussiert die zuständige Fachgesellschaft pharmakologische und chirurgische Eingriffe und entwertet die Möglichkeiten einer anfallsbezogenen psychotherapeutischen Behandlung. Die „Vermutung, dass psychische Zustände und Anfallskontrolle in Wechselwirkung stehen“ sei nicht bewiesen; das gebe die Datenlage nicht her, bemerkt die neurologische Fachgesellschaft sinngemäß auf Seite 174 der Leitlinie.
Das ist eine bemerkenswerte Feststellung angesichts der bio-psycho-sozialen Normalität neurologischer Vorgänge und der grundlegenden Funktion des menschlichen Nervensystems, Umweltreize zu verarbeiten. Bekanntermaßen sind menschliche Empfindungen wie z.B. Angst, Wut oder Unsicherheit mit biochemischen Veränderungen verbunden, die Körperprozesse (z.B. die Herzfrequenz oder das hirnorganische Zusammenspiel von hemmenden und erregenden Neuronen) beeinflussen. Die medizinische Fachgesellschaft, die für die Erstellung der epileptologischen Behandlungsleitlinie Verantwortung trägt, ignoriert die kommunikative Funktion des menschlichen Nervensystems und auch die vielfach dokumentierten Erfahrungen Betroffener, die darüber berichten, dass sie in bestimmten Situationen (keine) Anfälle erleben. Die Fachgesellschaft „de-kontextualisiert“ Epilepsien, das heißt: Die Krankheit wird aus ihren sozialen Wirkzusammenhängen herausgetrennt, als wäre der menschliche Körper unverbunden mit dem Verhalten und dem Erleben der betroffenen Person.
Medizinforschung bestätigt die kulturelle Fiktion des unverbundenen Körpers
Die de-kontextualisierte Betrachtung der Epilepsien und die damit begründete einseitig körperbezogene Epilepsietherapie wird mit dem Argument wissenschaftlicher Objektivität untermauert. Hierbei gelten sogenannte „Randomisierte kontrollierte Studien“ (randomised controlled trials, kurz: RCTs) als „Goldstandard“ der Beweisführung. Proband*innen einer Studie werden auf zwei Gruppen verteilt: Experimentalgruppe und Kontrollgruppe. Patient*innen der Experimentalgruppe bekommen z.B. ein neues Medikament; Teilnehmende der Kontrollgruppe die Standardtherapie oder eine Placebobehandlung. Wichtige Punkte für die Bewertung der Aussagekraft einer solchen Studie sind: eine möglichst große Anzahl Teilnehmender (mit typischerweise mehreren hundert Personen) und die Doppelverblindung, dass heißt, weder Patient*innen noch Fachpersonal wissen, wer welcher Gruppe zugeordnet sind. Diese Studien folgen einer Laborlogik: Die Wirksamkeit eines Mittels soll unabhängig von Umweltfaktoren (z.B. Erwartungshaltung der Ärztin) und ungeachtet der Variabilität menschlicher Körper und Krankheitserfahrungen nachgewiesen werden. Erst wenn eine Behandlungsmethode mit einer so aufgebauten Studie erfolgreich untersucht wurde, gilt sie als evident und wird dem Katalog der „richtigen“ Behandlungen beigefügt.
Randomisierte Studien eignen sich hervorragend für die Erprobung von Medikamenten, werden überwiegend von Pharma-Unternehmen finanziert (vgl. Bothwell et al. 2016) und sind mit ihrer Laborlogik (Kontext ausblenden) weitgehend ungeeignet, um die Wirksamkeit komplexer psychologischer Interventionen nachzuweisen. Letztere werden infolgedessen mit Verweis auf die „Datenlage“ abgewertet und nicht oder kaum zur Anwendung gebracht. So schließt sich der kulturelle Kreis einer medizinischen Praxis, die Krankheit einseitig als organisches Problem begreift und komplexe psychosoziale Handlungsmöglichkeiten ausblendet.
Die einseitig körperzentrierte Epilepsieversorgung schwächt und schädigt die Betroffenen
Die einseitig biomedizinische Epilepsiebehandlung ist schädlich: Sie missachtet die Erfahrungen der Epilepsiepatient*innen und behindert eine aktive eigenverantwortliche Krankheitsbewältigung. Sie treibt die Betroffenen in die Abhängigkeit von Ärzt*innen und die einseitige Hoffnung auf Medikamente. Patient*innen lernen und erleben, dass sie ihre Krankheit nicht selbst beeinflussen können und dass Anfälle unkontrollierbar ihr Leben bedrohen. Mit der Erfahrung des Kontrollverlusts steigt das Risiko psychischer Erkrankungen, dass bei Menschen mit schwer behandelbaren Epilepsien ohnehin deutlich erhöht ist (vgl. Baumgartner et al. 2011).
Manchmal ist die chirurgische Entfernung des epileptischen Hirngewebes eine Behandlungsoption; eine erstaunliche Möglichkeit der modernen Biomedizin, die mit hoher Präzision und Kunstfertigkeit vorbereitet und durchgeführt wird. Allerdings: Neurochirurg*innen operieren mit schwerwiegenden Risiken und sehr hohen Kosten bevor die Möglichkeiten einer psychologischen oder verhaltensmedizinischen Intervention zur Anfallskontrolle geprüft wurde.
Zuerst das Wort, dann das Mittel, zuletzt das Messer
Das Gehirn ist ein Knotenpunkt der Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung. Epileptische Anfälle sind außergewöhnliche Ereignisse des Gehirns und entstehen in einem bio-psycho-sozialen Kausalgefüge, dass viele Betroffene durch ihr eigenes Verhalten beeinflussen können - das zeigt auch die erfolgreiche Anwendung von Biofeedback-Trainings, die unter anderem Yoko Nagai (2004, 2018) in mehreren Studien nachgewiesen hat.
Verhaltensbezogene Möglichkeiten der Vorbeugung und der Kontrolle von Anfällen sollten gleichberechtigt mit den Möglichkeiten der Pharmakologie und der Neurochirurgie zum Einsatz kommen - und zwar in der Abfolge: „Zuerst heile mit dem Wort, dann mit der Arznei und zum Schluss mit dem Messer.“ (vgl. Rudolf Henke).
Auf der Grundlage einer Beobachtung des inneren und äußeren Geschehens vor einem Anfallsereignis (dokumentiert in einem kontextsensiblen Anfallstagebuch) können Patient*innen individuelle anfallsfördernde Bedingungen herausarbeiten und Ansatzpunkte finden, um ihr persönliches Anfallsrisiko zu verringern. Der Psychologe Gerd Heinen und die Neurolog*innen Rosa Michaelis und Siegward Elsas nennen diesen Ansatz „Selbst-Handeln bei Anfällen“ - und haben hierfür in mehreren Heften eine umfangreiche patientenorientierte Anleitung formuliert.
Das Gesundheitssystem müsste (zur Umsetzung des Gebots des milderen Mittels) allen Patient*innen entsprechende Behandlungsoptionen anbieten, um sicher zu stellen, dass medizinische Eingriffe mit erheblichen Nebenwirkungen und Risiken nur dann zum Einsatz kommen, wenn sie tatsächlich erforderlich sind. Faktisch bietet die aktuelle Epilepsieversorgung keinen Schutz vor unnötigen Eingriffen. Die medizinische Leitlinie, also der offizielle Standard für die Epilepsiebehandlung, definiert epileptische Anfälle als isolierte kontextunabhängige Störungen des Gehirns und verengt auf diesem theoretischen Hintergrund das anerkannte Behandlungsspektrum auf Medikamente und Operationen. Mögliche mildere Mittel - wie Selbst-Handeln oder Biofeedback - bleiben außen vor.
„Epilepsie ist mehr als Anfälle“
Epilepsien sind vielgestaltig und individuell: Es gibt viele verschiedene Anfallsarten mit ganz unterschiedlichen Auswirkungen – manche Betroffene erleben eine innere Furcht ohne körperlich sichtbare Veränderungen, andere verlieren schlagartig das Bewusstsein und stürzen. Außerdem sind Epilepsien weit mehr als das erhöhte Risiko, einen epileptischen Anfall zu erleiden. Erfahrungen mit Ausgrenzung und Stigmatisierung können tiefe Spuren hinterlassen. Dazu kommen bei vielen epilepsieerkrankten Personen neuropsychologische Einschränkungen, z.B. im Bereich der Konzentration oder Merkfähigkeit. Neuropsycholog*innen sprechen von „kognitiven Teilleistungsstörungen“. Epilepsiepatient*innen können zur Behandlung entsprechender Probleme eine ambulante neuropsychologische Therapie in Anspruch nehmen.
In meinen Seminaren zur Epilepsie versuche ich das Gesamtbild auszuleuchten und die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen - ihr Recht auf Autonomie und ihre Macht über den eigenen Körper und das eigene Leben - in den Mittelpunkt zu rücken. Neben einer allgemeinen bio-psycho-sozialen Einführung in das Thema biete ich die folgenden Schwerpunkte an:
Abschließend die Worte einer betroffenen Person über die Komplexität ihrer eigenen Krankheitserfahrungen; aktuell veröffentlicht auf der Facebook-Seite von Epilepsy Awareness Africa, hier in eigener Übersetzung:
Epilepsie ist nicht nur ein Anfall.
Es ist der Verlust von Kontrolle, die besorgte Familie, Medikamente vergessen, die lähmende Angst, die Depression, der zuckende Körper, der Schmerz nach einem Anfall als würden sich deine Knochen abwetzen.
Es ist der Anruf 2 Uhr nachts, weil du vergessen hast Bescheid zu sagen, dass es dir gut geht.
Es ist die Angst, nicht wieder aufzuwachen, die Nebenwirkungen der Medikamente, es ist die Isolation, die beschämenden Symptome, es ist das Erwachen im Krankenwagen, es ist die Dankbarkeit, überhaupt wieder aufzuwachen, es ist das Essen im Krankenhaus wieder und wieder, es sind die Narben der Verletzungen und der vergessenen Erinnerungen.
Epilepsie ist nicht nur ein Anfall.
© Alexander Laviziano, Dezember 2024
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